4c THE EURIDICE SYNDROME
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4. Juni 1910. WALTER GROPIUS im steirischen Kurort Tobelbad.
Eine KRANKENSCHWESTER kommt.
SCHWESTER (schaut
der Patientin U.S Alma nach, die mit Alma 1 in
Richtung Kafkaraum verschwindet:) Und unsere Patienten? Wie
finden sie unsere Patienten?
GROPIUS Oh...
Ich fürchte, denen habe ich noch nicht sehr viel Aufmerkamkeit
geschenkt...
SCHWESTER Entschuldigung,
stört es sie, wenn ich ihnen ein wenig Gesellschaft leiste?
GROPIUS Nein,nein,
überhaupt nicht, Schwester! Überhaupt nicht!
SCHWESTER Danke.
- Darf ich fragen: Wie geht es ihnen heute? Fühlen sie
sich wohl bei uns? Oder haben sie irgendeine Beanstandung
vorzubringen?
GROPIUS Ich
bitte sie, Schwester, ganz im Gegenteil, ich finde Tobelbad
wunderbar!
SCHWESTER Ja,
Tobelbad ist auch ein wunderbarer Ort, aber ich meine im speziellen
hier, in unserem Insitut. Haben sie in unserem Sanatorium
irgendwelche Mängel feststellen müssen, die sie
gerne weitergeben möchten?
GROPIUS Oh,
das ist wirklich sehr liebeswürdig, Schwester, aber ich
wüßte beim besten Willen nicht, was. Das Essen
ist hervorragend, die Lage ist herrlich, das Personal ist
bezaubernd, sehr diskret, sehr professionell, die medizinische
Betreuung... Nein, ich muß sagen, ich bin rundum zufrieden.
SCHWESTER Erlauben
sie mir bei der Gelegenheit: ich habe die Beobachtung gemacht,
daß sie seit ihrer Ankunft noch nicht sehr viel Kontakt
mit anderen Kurgästen gepflegt haben. Ist das richtig?
GROPIUS Ich
bin absichtlich nicht viel unter Leute, weil... Um ehrlich
zu sein, 1909 war ein ziemlich anstrengendes und turbulentes
Jahr für mich. Sehr entscheidend - für meine Karriere
als Architekt. Zu allem Überfluß hat mich eine
schlimme Verkühlung den ganzen Winter über verfolgt
und ich bin sie bis jetzt noch nicht ganz losgeworden. Also
bin zu ihnen gekommen, um... sagen wir, ein bißchen
Ruhe zu finden. Aus therapeutischen Gründen sozusagen.
Und sie werden lachen: es geht mir mit jedem Tag besser. Der
Frühling tut ein übriges, und sie werden sehen,
in Kürze bin ich wieder auf dem Damm.
SCHWESTER Ich
verstehe. (Sie macht sich auf den Weg nach oben) In diesem
Fall ist es natürlich meine ärztliche Pflicht, ihre
Entscheidung zu respektieren. Ich werde mich also nach einem
anderen Orpheus umsehen müssen...
GROPIUS Einem
anderen «Orpheus»?...
SCHWESTER Verzeihen
sie! Ich habe mir nur erlaubt, zu spaßen. Es ist eine
Art Metapher. Denn, sehen sie, ich suche so etwas wie eine
Vertrauensperson, einen Partner im Geiste, der mich in meiner
Arbeit unterstützt. Jung, gutaussehend, sensibel, um...
eine «gute Tat» zu stiften, wenn ich das so nennen
darf. - Aber da sie nun einmal absolute Ruhe brauchen...
GROPIUS (geht
ihr nach die Treppe hoch) Moment, Moment, Moment! Von welcher
«guten Tat» sprechen sie denn?
SCHWESTER (Beugt
sich über die Brüstung und flüstert in heimlichem
Ton:) Haben sie jemals Gelegenheit gehabt, einen Menschen
vor dem Ertrinken zu retten?
GROPIUS Nein.
SCHWESTER Ich
meine das rein metaphorisch natürlich.
GROPIUS Natürlich.
- Was ist mit diesem Ertrinkenden...?
SCHWESTER Es
ist eine Frau. Ein sehr kostbarer Mensch.
GROPIUS Eine
Patientin von ihnen?
SCHWESTER Ja.
Sie ist schon zum zweiten Mal hier. Ich frage mich manchmal
wirklich, wie eine so attraktive, faszinierende und begehrenswerte
junge Frau so unglücklich sein kann...
GROPIUS Wie
heißt sie denn?
SCHWESTER Oh,
da muß ich um ihr Verständnis bitten, wenn ich
ihnen das nicht sagen darf. Hier sind mir leider die Hände
gebunden... Sie werden das verstehen. Noch dazu, da ich jetzt
schon soviel von ihr preisgegeben habe... Und ihr Ehemann
ist ein sehr berühmter Mensch!
GROPIUS Aber
sie wollten mich doch gerade als Orpheus...
SCHWESTER Ja,
aber ihre eigene Gesundheit geht natürlich vor... Dazu
sind sie schließlich hier! (geht in den Speisesaal,
Gropius folgt ihr)
GROPIUS Das
schon, das schon...
SCHWESTER Nein,
nein, es ist unmöglich! Es hat gar keinen Sinn. Sie ist
eine Frau, für die jede Art von Ruhe den Tod bedeuten
würde. Das erkennt man schon an ihrem Gatten. Er muß
ein außergewöhnlich motorischer Geist sein, ganz
im Gegensatz zu seiner körperlichen Erscheinung übrigens,
die fast zerbrechlich, ja fragil wirkt. Anders ist es nicht
zu erklären, daß dieses unglückliche Geschöpf
sich in einem solch erbarmungswürdigen Zustand befindet.
- Aber ich habe ihre Geduld schon viel zu lange in Anspruch
genommen. Sie müssen ja längst schon zur Unterwassertherapie...
(betritt die Veranda)
GROPIUS Warum
haben sie gesagt, sie sind auf der Suche nach einem «Orpheus»?
SCHWESTER Ich
habe - sozusagen in meinen «Mußestunden»
- eine interessante Theorie entwickelt, über die weibliche
Frustration. Ich nenne sie das «Eurydike-Syndrom».
Denn sehen sie, es ist merkwürdig oft zu beobachten,
daß blutjunge Frauen, wohlsituiert, schön, aus
gutem Hause, mit allem reich gesegnet, nach ihrer Heirat mit
einem berühmten oder erfolgreichen Mann in kürzester
Zeit in die schlimmste Melancholie verfallen, sobald sie sich
nur wenige Wochen dem ernüchternden Alltag des Ehelebens
ausgesetzt sehen. Denn die maßlose Egozentrik und oft
unvorstellbare Gefühlskälte ihre Ehemänner
vergißt in der Regel sehr schnell, daß diese Geschöpfe
geradezu verschwenderisch für die Kunst der Liebe ausgestattet
sind. Sie begehen ein unverzeihliches Verbrechen, wenn sie
diese fruchtbaren Quellen versiegen und vertrocknen lassen.
Ihr immens kreatives erotisches Potential verkommt durch diese
Enttäuschung in kürzester Zeit zu einer tiefverwurzelten,
neurotischen Störung. Für eine solche Frau kann
das Leben über Nacht zu einem endlosen Tunnel werden,
der sie direkt in die Hölle führt. Und wie Eurydike,
die einen Orpheus braucht, der den Mut und die Kraft aufbringt,
sie den dunklen Mächten des Hades wieder zu entreissen,
um sie zurück ans helle Tageslicht zu führen, so
sehnen sich auch diese armen Geschöpfe nach einer helfenden
Hand, die sie dem Licht und der Wärme der Leidenschaft
aufs neue vermählen.
GROPIUS Sie
sind erstaunlich, Schwester...! - Was ist denn das für
eine Frau?
SCHWESTER Junger
Freund, glauben sie tatsächlich, daß sie Kraft
und Stärke genug besitzen, meiner Eurydike neues Leben
einzuhauchen? Es ist ein sehr verantwortungsvolles, riskantes
Unterfangen. Eine Verletzung mehr kann das Ende für sie
bedeuten.
GROPIUS Ich
kann es mir denken.
SCHWESTER Vorhin
haben sie noch gesagt, sie seien selbst bedürftig...
GROPIUS Da
haben sie mich mißverstanden, Schwester. Ich meinte
bedürftig nicht im medizinischen Sinn, sondern im positiven
Sinn, im Sinne einer Sehnsucht nach Erholung!
SCHWESTER Bedürftig
im positiven Sinn?
GROPIUS Aber
ja. Sehen sie, das letzte Jahr war überaus anstrengend
für mich, in jeder Hinsicht. Vor allem als Architekt.
Ich habe eine Art Durchbruch erlebt, auf den ich schon lange
hingearbeitet hatte. Und das Tag und Nacht. Ich habe eine
spezielle Methode entwickelt, Häuser industriell herzustellen.
SCHWESTER Eine
industrielle Verfertigung von Häusern? Das müssen
sie mir erklären...
GROPIUS Ja,
mit einer Art von Basiselementen, sogenannten Fertigteilen,
die in eigens dafür eingerichteten Fabriken hergestellt
werden, wie etwa Trennwände, die man beliebig zusammensetzen
und zu den unterschiedlichsten Räumen kombiniereren kann.
Aber auch Elemente für Zimmerdecken, Dächer oder
Fußböden. All diese Elemente könnten in sehr
großer Zahl hergestellt werden, so daß ein Hausbau
sehr kostengünstig zu kalkulieren wäre. Man sucht
sich einfach aus, was man braucht und nach einem Standardplan
kann ein solches Fertigteilhaus dann in einem Bruchteil der
normalen Zeit aufgestellt werden.
SCHWESTER Aber
wer will denn schon in «vorfabrizierten» Häusern
wohnen? Glauben sie wirklich, daß die reichen Leute,
die sich ein Haus oder eine Villa leisten können, an
ihrer Erfindung interessiert sein werden?
GROPIUS Ich
denke gar nicht an die Reichen, ich denke an den kleinen Mann
von der Straße. Das Problem des Wohnraums wird das vorrangige
Problem der neuen Zeit werden, sie werden sehen. Meine Erfindung
wird helfen, die Mieten zu senken. Jede Arbeiterfamilie wird
die Möglichkeit bekommen, in ihren eigenen vier Wänden
zu wohnen.
SCHWESTER Aber
wie sollen denn solche Gebäude aussehen? Und wie werden
denn unsere Städte auf einmal aussehen? Endlose Reihen
von völlig identischen, maschinell vorfabrizierten Häusern!
Das ist ja grauenvoll! Die Arbeiterklasse wird dann zwar ihre
eigenen vier Wände haben, aber sie wird sie nicht wiedererfinden,
wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt! Weil alle völlig
gleich ausschauen! Unsere schönen Städte, der Stolz
unseres Landes. Sie werden ein optisches Fiasko werden! Ich
dachte immer, Architektur hätte mit Kunst zu tun...!
GROPIUS Natürlich
hat sie mit Kunst zu tun, aber nicht mit Kunst um ihrer selbst
Willen! Diese Auffassung von Architektur ist tot! Kunst soll
den Menschen dienen. Und auch unsere Auffassung von Schönheit
wird sich verändern, sogar ziemlich schnell! Sie werden
sich wundern! Die ganzen Villen hier rundherum repräsentieren
doch eine längst überholte pseudo-ländliche
Auffassung von Schönheit. Wir bewegen uns auf eine völlig
neue Ästetik der Stadt zu, auf völlig neue Gesetze
menschlichen Zusammenlebens und das erfordert eine neue Auffassung
von Urbanismus! Und ich denke bereits weiter! Ich stelle mir
eine transparente Architektur vor, mit durchsichtigen Zwischenwänden
und inter-penetrierenden Innenräumen...
SCHWESTER Lieber,
Freund, wenn sie nur halb soviel Energie in die Errettung
meiner Eurydike stecken würden, wie in die Errettung
der Arbeiterklasse, ich bin sicher, das unglückliche
Geschöpf könnte gerettet werden!
GROPIUS Ja,
mein Gott?! Warum stellen sie mich ihr denn dann nicht vor?!
SCHWESTER Schauen
sie sich doch um! Sie können sie nicht übersehen.
Das einsamste, melancholischste, faszinierendste, bezauberndste
Wesen im ganzen Sanatorium - das ist sie.
Im Garten erscheint Alma am Arm einer Krankenschwester.
SCHWESTER Schwester?!!
RESERL Ja?!
SCHWESTER Können
wir einen Augenblick zu Ihnen hinunter kommen? Ich möchte
der gnädigen Frau gerne jemanden vorstellen.
RESERL (frägt
Alma um ihr Einverständnis, diese nickt) Ja, gern. Warum
nicht.
GROPIUS Ich
kann es gar nicht erwarten, Schwester!.
SCHWESTER Kommen
sie, ich mache sie mit ihr bekannt!
GROPIUS Wie
heißt sie denn, um Gottes Willen?!
ALMA erscheint.
SCHWESTER Gnädige
Frau, darf ich ihnen Herrn Walter Gropius vorstellen, Architekt
aus Berlin und Gast in unserem Hause. - Frau Alma Mahler,
die Gattin des Direktors der Wiener Hofoper, Gustav Mahler.
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