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03c | You gave me my Freedom

Juli 1938. Anna MAHLER, die Tochter Almas und Gustav Mahlers erzählt ihrem Stiefvater Franz Werfel eine Erinnerung aus ihrer Kindheit.

ANNA
Es ist ja schon bald zwanzig Jahre her. Im Sommer 1918. Ich war vierzehn. Wir verbrachten den Sommer damals am Semmering, in dem Haus in Breitenstein. Die Mammi, die kleine Manon und ich. Die Mammi war damals schon hochschwanger, ich glaube im siebten Monat. Und eines Tages kamst du uns besuchen. Es war an einem Wochenende. Ich mochte das gerne, wenn du zu Besuch kamst. Nach dem Essen spielten wir vierhändig Papis achte Symphonie auf dem Harmonium, dann gingen alle schlafen.

Mitten in der Nacht wurde ich plötzlich geweckt. Ich hörte Stimmen und Geräusche, die aus dem Zimmer über mir zu kommen schienen. Dort war Mammis Schlafzimmer. Zuerst war ich sehr erschrocken und hatte furchtbare Angst, denn ich erkannte Mammis Stimme gar nicht. Denn die Stimme war so heiser und tief und wild. Ich dachte zuerst, jemand ruft um Hilfe. Aber dann erkannte ich plötzlich, daß es die Mammi war und ich spürte auch, daß es gar keine Hilfeschreie waren, die sie ausstieß, sondern irgendetwas anderes, fremdes, von dem ich aber nicht wußte, was es war. Und dann war da noch eine Stimme. Die kannte ich auch. Und das war deine Stimme. Die ich so mochte... dein warmer, samtiger Tenor. Ich war sehr musikalisch, ich erkannte ihn sofort. Und plötzlich — wie zur Bestätigung — hörte ich auf einmal in dem ganzen Gestöhn und Geschrei, wie sie dich beim Namen nannte, und immer wieder rief: «Franzl! Oh, Franzl! Das ist ein Verbrechen. Das dürfen wir nicht. Franzl! Du bringst mich um!! Du bringst mich um!!! Oh mein Gott, du bringst mich um!!» — du weißt schon, die Art von Poesie. Und das ging immer so weiter und weiter, ich weiß nicht mehr, wie lange. Und immer, wenn ich dachte, es ist vorbei, fing es wieder von vorne an. Mit neuer Energie. Es kam wie in Wellen. Steigerte sich langsam, wurde heftiger und heftiger, und das Atmen wurde bei jedem Mal noch stärker, das Keuchen noch wilder, das Schreien noch lauter... Bis sich der Sturm gegen Morgen endlich legte und die kleine Manon, die sich die ganze Zeit ängstlich an mich geklammert hatte, völlig erschöpft in meinen Armen einschlief... und es auch mich in einen verzweifelten Schlummer riß.

Am nächsten Morgen stürzte das Dienstmädchen plötzlich in unser Zimmer. Sie war völlig in Panik : «Anna! Komm schnell, komm schnell, deine Mutter...! Ich glaube, sie stirbt!!» - Ich rannte hinauf. Als ich in Mammis Zimmer kam, war alles voll Blut. Alles. Teppich, Bettzeug, Kleider, alles. Und die Mammi lag mitten drin. Sie blutete wie ein Schwein. Es war.... unvorstellbar. Ich rannte die Stiegen hinunter... Da kamst du aus dem Frühstückszimmer. Du warst ganz komisch. Du sahst so stolz und zufrieden aus. Und als du mich sahst, mein entsetztes Gesicht, fragtest du «Was ist denn los, Gucki?» Und ich sagte: «Geh, lauf, telefonier dem Doktor! Die Mammi stirbt.» Von einer Sekunde zur nächsten veränderte sich deine Miene. Du griffst nach deinem Kopf, wie wenn du von einer Kugel getroffen wärest, stießt irgendwelche unverständlichen Sätze hervor und fingst an, wie ein Verrückter durch das ganze Haus zu rennen, völlig planlos, völlig hysterisch. Und immer noch hast du vor dich hingestammelt und gestottert: «Oh Gucki, was habe ich getan?! Oh Gucki! Oh, Gucki!» Du warst wie ein Kind.

Also brachte man die Mammi nach Wien zu Professor Halban, wo sie am nächsten Tag den kleinen Martin entband. Er kam fast zwei Monate zu früh. Mein armer, kleiner Bruder... Als er zehn Monate später tot war, ist die Mammi nicht einmal zu seinem Begräbnis gekommen. Im Tiefsten ihres Herzens ist Alma ein entsetzlicher Feigling. Ja... Ja, Franz, damals hast du mir meine Freiheit geschenkt, damals, als ich vierzehn Jahre alt war.

Anna Mahler - Freedom (Word-Doc)