Psychologische Stellungnahme Die psychologische Stellungnahme beruht auf: • | | Besuch der Premiere „ALMA" im k.k. Post- und Telegrafenamt (Mittwoch, 08.07.2009, 20:15 bis 00:15 Uhr mit Frau Mag. Tröbinger-Broukal) | • | | Gespräch mit Frau Dr. Tina Maria Feyrer – Alma Theaterproduktion GmbH
| • | | Telefonat mit Frau Dr. Tina Maria Feyrer – Alma Theaterproduktion GmbH
| • | | Internetrecherche – www.alma-mahler.com | Das Stück beschreibt Auszüge aus der Geschichte der Femme fatale Alma Mahler-Werfel mit detaillierten Psychogrammen vielerlei Personen. Die großen zeitlosen Themen des Menschen – (Ohn)Macht, Liebe, Lust, Leidenschaft, (Wahn)Sinn, Ästhetik, Intellekt, Gefühl und Trieb – werden anhand von szenischen, höchst intimen Lebensausschnitten mehrerer Figuren dargestellt. Almas selbstreflexive Monologe werden von einer Schauspielerin oder mehreren „Almas“ hochdramatisch inszeniert – paranoid anmutende Inhalte, teilweise sexualisierte oder blasphemische Bemerkungen inklusive dazugehöriger Gefühlsäußerungen, Aggressionsdurchbrüche, Beschimpfungen, Abwertungen, Schreien, Attackieren von Gegenständen. z. B. 05a Dead Friends Reserl 11b Sex and Caricature Beziehungsszenen zwischen Alma und wechselnden Partnern führen durch spannungsgeladene Paardynamiken, in welchen überschießende Gefühle unberechenbar ausagiert werden. Diskussionen münden in emotionalen Auseinandersetzungen mit einem raschen Kippen von Empfindungen – Verzweiflung, Ohnmacht, Trauer, Wut – und enden teilweise in gegenseitigem Anbrüllen, Handgreiflichkeiten und Rangeleien. z. B. 02a Adieu Alex Zemlinsky Sexualität als facettenreiches Thema zieht sich sowohl in Sprache als auch in Handlungen in unterschiedlicher Deutlichkeit durch die Geschichte. Ausschweifende, teilweise vulgäre Ausdruckweise bei Erzählungen sexueller Inhalte – Abwertungen der eigenen Person und anderer, Reduktion des Menschen auf seine sexuelle Komponente bzw. auf ein Lustobjekt, das benutzt oder benutzt wird, mit gelegentlich blasphemischen Kommentaren. z. B. 11b Sex and Caricature Auf der Handlungsebene variiert das Thema von Andeutungen sexueller Praktiken bekleideter Schauspieler bis zum lebensnah dargestellten Masturbieren eines nackten Mannes auf einem Podest, das deutlich von der Gesamtszene abgehoben ist. Sexuelle Handlungen in verschiedenen Varianten werden als Instrumente von Lust und Macht angedeutet – von gängigen sexuellen Praktiken bis hin zur sadistisch-ritualisierten Rache der Liebhaber an der Alma-Puppe in der Schlussszene. Es liegt im Auge des Betrachters in diversen Andeutungen sexueller Varianten Sadomasochismus, Gruppensex und Fetischismus als harmlose Sexualpraktik zu erkennen. Beispielsweise kann man den Umgang der Liebhaber mit der Alma-Puppe, die aus einem Sarg entnommen wird, als symbolische Handlung mehrerer Männer an einer Frauenpuppe mit Betonung der Geschlechtsmerkmale, aber auch als nekrophile Gruppenvergewaltigung und Ritualmord mit Enthauptung des Opfers interpretieren. z. B. 14 A Masked Ball with Alma-doll and Reserl 11b Sex and Caricature Das Polydrama als Transportmittel der zahlreichen in sich verschlungenen einzelnen Lebensdramen verstärkt zusätzlich das sich formende Spannungsfeld, in das der Zuschauer hineingezogen wird. Die Bewegungsfreiheit des Zuschauers lässt zwar die Wahl der Reiseroute, womit eine Distanz zu einem vorgefertigten Konzept gegeben ist, aber gleichzeitig entsteht eine starke emotionale Nähe zu den Protagonisten und den dargestellten Inhalten. Der gewohnte Raum zwischen Schauspielern, Bühne und Publikum, Zuschauerraum ist aufgehoben, die Grenzen zwischen Schein und Sein verschwimmen. Unterstrichen wird dies durch reale körperliche Erlebnisse, z. B. gelegentliches Einbeziehen des Publikums in eine Handlung, und sinnliche Erfahrungen, z. B. das Dinner. Durch die räumliche Nähe zu den Schauspielern werden wesentlich leichter und schneller Anknüpfungspunkte zu eigenen Lebensdramen geknüpft, ein emotionales Mitschwingen ist fast garantiert. Ein mehrstöckiges Palais mit Hof ist die Bühne, die vom Publikum durchwandert wird. Das Ambiente des Gebäudes ist gekennzeichnet durch gedämpfte Beleuchtung, vorwiegend Kerzenleuchter und Fackeln. Bewegt man sich auf dem Weg von einem Raum zum anderen durch das Stiegenhaus sind Stimmen oder Rufe scheinbar aus dem Nichts zu hören, die Teil einer Szene sind, der man im Moment gerade nicht beiwohnt. Die Begräbnisszene von Gustav Mahler findet vor dem Palais sehr eindrucksvoll inszeniert im Dunkel der Nacht mit Pferdekutsche, Sarg, Fackeln, Mahlers Name in Feuerschrift, untermalt von dramatischer Musik auf einem Kinderspielplatz statt. In einem Gespräch gegen Ende des Stücks wurde Frau Dr. Feyrer über die aus der Sicht der Vertreterinnen des Jugendwohlfahrträgers notwendige Altersbeschränkung inklusive einiger beispielhafter Argumente informiert. Sie gab an dies mit dem Regisseur Herrn Manker zu klären und am nächsten Tag mitzuteilen, ob die Produktionsleitung selbst eine Zugangsbeschränkung festlegen wird. Am 09.07.2009 gab Frau Dr. Feyrer telefonisch bekannt, dass Herr Manker nicht bereit sei eine Altersbeschränkung festzulegen. Sie wurde informiert, dass die psychologische Stellungnahme eine Empfehlung zum Besuch der Vorstellung ab 14 Jahren enthalten wird. Zusammenfassend wird aus entwicklungspsychologischer Sicht festgestellt, dass das was den Reiz für Erwachsene hinsichtlich der Thematik und gerade dieser Art von Produktion ausmacht von Kindern als eine Bedrohung erlebt werden kann. Eine gewisse kognitive Reife stellt die Voraussetzung dar, um Inhalt, Komplexität und Dramatik der Gesamtgeschichte sowie den Geschichten in den Geschichten zu erfassen bzw. zu verarbeiten. Erst in der formal-operationalen Phase der kognitiven Entwicklung ist ein Abstrahieren auf eine Metaebene möglich und werden moralische Bewertungen selbstständig im Rahmen einer etablierten sozialen Ordnung interpretiert. Die angesprochenen Themen – Beziehungsdynamiken, Sexualität – stellen im Jugendalter im Zuge der Identitätsfindung eine Entwicklungsaufgabe dar. Die dramaturgisch inszenierte Andeutung und Darstellung aggressiver sowie abwertender, auf ein Lustobjekt reduzierender Varianten von Sexualität können bei jüngeren Kindern zu Traumatisierungen führen sowie bei unter 14-jährigen Angst induzierende Irritationen auslösen, die negative Auswirkungen auf die psychosexuelle Entwicklung zur Folge haben können. Das Betrachten bzw. Erleben dieses Stücks erfordert neben der kognitiven Reife die Fähigkeit zur emotionalen Distanzierung von Dargestelltem. Insbesondere das Polydrama als Mittel der Wahl und die Art und Weise der Inszenierung zielen aber gerade auf das emotionale Mitschwingen der Zuschauer. Bei Kindern und jugendlichen unter 14 Jahren besteht die Gefahr durch die teilweise dramatisch inszenierten Beziehungsdynamiken emotional überfordert zu werden sowie mittels Trigger eigene Belastungserlebnisse (wieder)zu erleben. Durch die Nähe und gelegentliche involvierung der Zuschauer in die Handlungen, z. B. den Schauspielern bei Handgreiflichkeiten ausweichen zu müssen, entstehen Stresssituationen, die zu bewältigen sind, sodass selbst bei jüngeren Jugendlichen schon die „Hausordnung zum Auskommen mit Alma“ (Sprechverbot, Handeln auf eigenes Risiko) eine Herausforderung darstellt. Aus den angeführten Gründen wird aus psychologischer Sicht zur Frage der Altersbeschränkung empfohlen eine Freigabe der Vorstellung ab 14 Jahren festzulegen. Nahe gelegt wird die Begleitung durch eine Bezugsperson des/der Jugendlichen sowie eine Vor- und Nachbesprechung des Stücks. Verwiesen wird auf die umfassenden Informationen auf der angeführten internetseite. Für das Dezernat 4: Mag. Gabriele Kohl Klinische- und Gesundheitspsychologin DW 90892 Literaturhinweise: Bauer J. (2006): Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der spiegelneurone. München: Heyne Brisch K. H., Hellbrügge T. (Hrsg.) (2009): Bindung und Trauma: Entwicklung und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern. Stuttgart: Klett-Cotta; 3. Aufl. Damasio A. R. (2007): Der Spinoza-Effekt: Wie Gefühle unser Leben bestimmen. Berlin: List; 4. Aufl. Fischer G., Riedesser P. (2003): Lehrbuch der Psychotraumatologie. Stuttgart: Reinhardt Gage N., Berliner C. D. (1996): Pädagogische Psychologie. Weinheim: Beltz; 5., vollst. überarb. Aufl. Hensel T., Landolt M. A. (2007): Traumatherapie bei Kindern und Jugendlichen. Göttingen: Hogrefe Herpertz-Dahlmann B. (2007): Entwicklungspsychiatrie: Biopsychologische Grundlagen und die Entwicklung psychischer Störungen. Stuttgart: Schattauer; 2., vollst. überarb. u. erw. Aufl. Huber M. (2005): Trauma und die folgen. Trauma und traumabehandlung. Teil 1. Paderborn: junfermann; 2. Aufl. Hüther G. (1997): Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 8. Aufl. Hüther G. (2006): Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 4., unveränd. Aufl. Levine P.A. & Kline M. (2005): Verwundete Kinderseelen heilen. München: Kösel; 4. Aufl. Oerter R., Montada L. (Hrsg.) (2002): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz; 5., vollst. überarb. Aufl. Nissen G. (Hrsg.) (2004): Psychische Störungen im Kindesalter und ihre Prognose. Stuttgart: Schattauer Roth G. (2007): Fühlen, denken, handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 4., vollst. überarb. Aufl. Roth G., Spitzer M., Caspary R. (2009): Lernen und Gehirn: Der Weg zu einer neuen Pädagogik. Freiburg: Herder; 6., Aufl. Saß H., Wittchen H.-U., Zaudig M. & I. Houben (2003): Diagnostische Kriterien – DSM-IV-TR. Göttingen: Hogrefe WHO / Dilling H. et al. (Hrsg.) (2008): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F) Klinisch-diagnostische Leitlinien. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Hans Huber; 6., vollst. überarb. Aufl. Wöller W. (2006): Trauma und Persönlichkeitsstörungen. Psychodynamisch-integrative Therapie. Stuttgart: Schattauer | |